EuGH, Urteil vom 21.06.2017, Az.: C 621/15

 

Der Fehler eines Impfstoffs und der ursächliche Zusammenhang zwischen diesem Fehler und einer Krankheit können bei fehlendem wissenschaftlichem Konsens durch ein Bündel ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien bewiesen werden. Die zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung eines Impfstoffs und dem Auftreten einer Krankheit, fehlende Vorerkrankungen bei der geimpften Person selbst und in ihrer Familie sowie das Vorliegen einer bedeutenden Anzahl erfasster Fälle des Auftretens der Krankheit nach solchen Verabreichungen können gegebenenfalls hinreichende Indizien für die Erbringung dieses Beweises darstellen.

 

Zwischen Ende 1998 und Mitte 1999 wurde der Patient mit einem Impfstoff gegen Hepatitis B geimpft. Von August 1999 an traten verschiedene Beschwerden auf, die im November 2000 zur Diagnose einer Multiplen Sklerose führten. Im Jahr 2011 starb der Patient. Bereits 2006 hatten er und seine Familie Klage gegen den Hersteller des Impfstoffes auf Ersatz des Schadens erhoben, der ihm durch den Impfstoff entstanden sei. Die mit der Rechtssache befasste Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) stellte u. a. fest, dass es keinen wissenschaftlichen Konsens gebe, auf den ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung gegen Hepatitis B und dem Auftreten der Multiplen Sklerose gestützt werden könne. Sie entschied, dass ein solcher ursächlicher Zusammenhang nicht bewiesen worden sei, und wies die Klage ab. Die mit einer Kassationsbeschwerde gegen das Urteil der Cour d’appel de Paris befasste Cour de cassation (französischer Kassationsgerichtshof) möchte vom Gerichtshof wissen, ob sich das Gericht trotz des Fehlens eines wissenschaftlichen Konsenses und unter Berücksichtigung dessen, dass es nach der Richtlinie der Union über die Haftung für fehlerhafte Produkte (RL 85/374/EWG) Sache des Geschädigten sei, den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zu beweisen, auf ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien stützen könne, um den Fehler eines Impfstoffs und den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Impfstoff und der Krankheit festzustellen. Im vorliegenden Fall wird insbesondere auf den ausgezeichneten früheren Gesundheitszustand des Patienten, auf fehlende Vorerkrankungen in seiner Familie sowie auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten der Krankheit Bezug genommen.

In seinem Urteil sieht der Gerichtshof eine Beweisregel als mit der Richtlinie vereinbar an, wonach das Gericht bei Nichtvorliegen sicherer und unwiderlegbarer Beweise auf der Grundlage eines Bündels ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien auf einen Fehler des Impfstoffs und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem und einer Krankheit schließen kann, wenn ihm dieses Indizienbündel gestattet, mit einem hinreichend hohen Grad an Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass diese Schlussfolgerung der Wirklichkeit entspricht. Eine solche Regel ist nämlich nicht geeignet, zu einer Umkehrung der bei dem Geschädigten liegenden Beweislast zu führen, da der Geschädigte die verschiedenen Indizien zu beweisen hat, die es zusammengenommen dem Gericht ermöglichen, sich vom Vorliegen des Fehlers des Impfstoffs und des ursächlichen Zusammenhangs zwischen diesem und dem erlittenen Schaden zu überzeugen.

Der Ausschluss aller anderen Arten der Beweisführung außer dem auf medizinischer Forschung beruhenden sicheren Beweis hätte darüber hinaus die Wirkung, die Inanspruchnahme der Haftung des Herstellers übermäßig schwierig oder, wenn aufgrund der medizinischen Forschung ein ursächlicher Zusammenhang weder bewiesen noch widerlegt werden kann, gar unmöglich zu machen, wodurch die praktische Wirksamkeit der Richtlinie sowie deren Ziele (nämlich der Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher und die Gewährleistung einer gerechten Verteilung der mit der modernen technischen Produktion verbundenen Risiken zwischen dem Geschädigten und dem Hersteller) beeinträchtigt würden.

Der Gerichtshof stellt jedoch klar, dass die nationalen Gerichte dafür Sorge tragen müssen, dass die vorgelegten Indizien tatsächlich hinreichend ernsthaft, klar und übereinstimmend sind, um den Schluss zuzulassen, dass das Vorliegen eines Fehlers des Produkts unter Berücksichtigung auch der vom Hersteller zu seiner Verteidigung vorgebrachten Beweismittel und Argumente als die plausibelste Erklärung für den Eintritt des Schadens erscheint. Zudem muss das nationale Gericht seine eigene freie Würdigung bezüglich der Frage, ob der Beweis rechtlich hinreichend erbracht worden ist oder nicht, bis zu dem Zeitpunkt bewahren, in dem es sich in der Lage sieht, zu einer endgültigen Überzeugung zu gelangen.

Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung eines Impfstoffs und dem Auftreten einer Krankheit, das Fehlen einschlägiger Vorerkrankungen des Betroffenen und seiner Familie sowie das Vorliegen einer bedeutenden Anzahl erfasster Fälle, in denen diese Krankheit nach solchen Impfungen aufgetreten ist, a priori Indizien darzustellen scheinen, die zusammengenommen das nationale Gericht dazu veranlassen könnten, davon auszugehen, dass der Geschädigte seiner Beweislast Genüge getan hat. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn diese Indizien das Gericht zur Annahme bewegen, dass zum einen die Verabreichung des Impfstoffs die plausibelste Erklärung für das Auftreten der Krankheit darstellt und zum anderen der Impfstoff nicht die Sicherheit bietet, die man berechtigterweise erwarten darf.

Darüber hinaus führt der Gerichtshof aus, dass weder der nationale Gesetzgeber noch die nationalen Gerichte eine Art der Beweisführung durch Vermutungen einführen können, die es gestattete, das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs automatisch zu begründen, wenn bestimmte konkrete, im Voraus festgelegte Indizien vorliegen: eine solche Art der Beweisführung hätte nämlich zur Folge, dass die von der Richtlinie vorgesehene Beweislastregel beeinträchtigt würde.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 66/2017 des EuGH vom 21.06.2017

BGH, Urteil vom 30.05.2017, Az.: VI ZR 203/16

Die Anwendung von nicht allgemein anerkannten Therapieformen ist rechtlich grundsätzlich erlaubt. Die Entscheidung des Arztes für die Wahl einer nicht allgemein anerkannten Therapieform setzt allerdings eine sorgfältige und gewissenhafte medizinische Abwägung von Vor- und Nachteilen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und des Wohls des konkreten Patienten voraus. Bei dieser Abwägung dürfen auch die Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten der Schulmedizin nicht aus dem Blick verloren werden. Je schwerer und radikaler der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Patienten ist, desto höher sind die Anforderungen an die medizinische Vertretbarkeit der gewählten Behandlungsmethode.