Schlagwortarchiv für: grober Behandlungsfehler

BGH, Urteil vom 06.12.2022, Az.: VI ZR 284/19

Mangels Feststellung einer vertraglichen Vereinbarung über die Ausgleichspflicht sind die Ausgleichsansprüche anhand der Umstände des Einzelfalls zu bemessen, insbesondere anhand der individuellen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge der Beteiligten. Bei einer Haftung auf Schadensersatz bestimmt sich das Innenverhältnis der Gesamtschuldner dann entsprechend dem Rechtsgedanken des § 254 Abs. 1 BGB regelmäßig danach, inwieweit die einzelnen Gesamtschuldner zur Verursachung der für die Haftung maßgeblichen Umstände beigetragen haben und in welchem Maß sie ein Verschulden trifft Die Grundsätze der Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers sind auch im Rechtsstreit zwischen mitbehandelnden Ärzten des Patienten über den selbständigen Ausgleichsanspruch des Gesamtschuldners nach § 426 Abs. 1 BGB anwendbar.

BGH, 08.02.2022, VI ZR 409/19

Auch bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in Arzthaftungssachen kann der Gesichtspunkt der Genugtuung nicht grundsätzlich außer Betracht bleiben. Ein dem Arzt aufgrund grober Fahrlässigkeit unterlaufener Behandlungsfehler kann dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben. Grobe Fahrlässigkeit ist allerdings nicht bereits dann zu bejahen, wenn dem Arzt ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist. Ein grober Behandlungsfehler ist weder mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen noch kommt ihm insoweit eine Indizwirkung zu.

OLG Köln, Urteil vom 20.12.2021, Az.: 5 U 39/21

Wird nach einem Trauma eine Röntgenaufnahme in einer zum Ausschluss einer Wirbelsäulenfraktur angezeigten zweiten seitlichen Ebene zunächst richtigerweise unterlassen, da eine Verlegung in ein anderes Krankenhaus zur Versorgung einer schweren Schädelverletzung vorrangig ist, kann sich das Unterlassen der Vervollständigung der Diagnostik im weiteren Verlauf als einfacher, nicht hingegen als grober Behandlungsfehler erweisen, wenn eindeutig richtungsweisende Symptome fehlen. Ein Befunderhebungsfehler führt nicht zu einer Beweislastumkehr, sofern sich bei der erforderlichen Abklärung zwar mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Befund ergeben hätte, auf den nicht zu reagieren ein grober Behandlungsfehler darstellen würde, die erforderliche Therapie jedoch ohnehin erfolgt ist, auch wenn dies aus einem anderen Grund geschah.

Urteil des OLG Köln vom 20.12.2021, Az.: 5 U 39/21

OLG Celle, Urteil vom 20.09.2021, Az.: 1 U 32/20

Nach einer im Wesentlichen komplikationsfreien Geburt gab eine Hebamme der Mutter Gelegenheit, im Kreissaal mit ihrem Baby zu „bonden“, und ließ beide allein. Kurze Zeit später erschien der Mutter – nach ihrer Schilderung – das Baby „zu ruhig“. Nachdem sie anfangs noch gedacht habe, dass es vielleicht schlafe, habe sie sich doch gewundert, dass es sich gar nicht rege. Sie habe klingeln wollen, damit jemand nachschaue. An ihrem Bett gab es aber keine Klingel. Infolge der Geburt habe sie zunächst nicht aufstehen können. Der Hebamme fiel der Zustand des Babys deshalb erst rund 15 Minuten später auf. Das Kind litt zu diesem Zeitpunkt unter einer Atemdepression. Trotz unverzüglicher Behandlung und Reanimation führte dies zu einer schweren Hirnschädigung. Das heute 8 Jahre alte Kind verlangt – vertreten durch seine Eltern – von dem Krankenhaus und der Hebamme aufgrund der verbleibenden Gesundheitsschäden ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 € sowie den Ersatz materieller Schäden. Das LG Hannover hat der Klage dem Grunde nach stattgegeben.

Die hiergegen eingelegte Berufung hat der für Streitigkeiten aus dem Arzthaftungsrecht zuständige 1. Zivilsenat des OLG Celle mit Urteil zurückgewiesen, nachdem er den bereits vom Landgericht vernommenen medizinischen Sachverständigen erneut angehört hatte. Eine Mutter müsse in dieser Phase der zweiten Lebensstunde des Babys die Möglichkeit haben, eine Hebamme beispielsweise mit einer Klingel zu alarmieren, ohne aus ihrem Bett aufzustehen. Sie sei in dieser Phase nicht stets in der Lage, selbstständig das Bett zu verlassen, um Hilfe zu holen.

Dass eine solche Alarmierungsmöglichkeit hier fehlte, sei ein grober Behandlungsfehler gewesen, der einem Arzt bzw. einer Hebamme schlechterdings nicht unterlaufen dürfe. Das Krankenhaus und die Hebamme hafteten deshalb, auch wenn nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden könne, dass eine frühere Alarmierung die Hirnschädigung tatsächlich verhindert hätte oder diese geringer ausgefallen wäre.

Der Senat hat eine Revision zum Bundesgerichtshof nicht zugelassen, weil der Fall insbesondere keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfe. Hiergegen haben sich die Beklagten mit einer Beschwerde an den Bundesgerichtshof gewandt, über die dort noch nicht entschieden ist. Sofern das Urteil rechtskräftig wird, steht abschließend fest, dass dem Kind Ersatzansprüche zustehen. Deren Höhe wäre allerdings gegebenenfalls noch durch das Landgericht Hannover zu klären.