BGH, Urteil vom 26.05.2020, Az.: VI ZR 186/17
Die regelmäßige Verjährungsfrist nach § 195 BGB wird mangels grob fahrlässiger Unkenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB grundsätzlich nicht schon dann in Lauf gesetzt, wenn es der Geschädigte oder sein Wissensvertreter unterlässt, Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin zu überprüfen. Das medizinische Fachwissen eines Sozius kann einem anderen regelmäßig nicht zugerechnet werden.
Sachverhalt:
Die Parteien streiten darüber, ob Ansprüche des Klägers gegen die Beklagten zu 1 bis 3 (Beklagten) wegen ärztlicher Behandlungsfehler im Zusammenhang mit seiner Geburt im Jahr 2003 verjährt sind. Auf Aufforderung der Prozessbevollmächtigten des Klägers übersandte die Beklagte zu 1 ihnen am 22.09.2006 die aus 91 Seiten bestehende Dokumentation über den stationären Aufenthalt der Mutter des Klägers. Mit der am 29.10.2010 bei Gericht eingegangenen Klage begehrt der Kläger von den Beklagten als Gesamtschuldnern die Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 40.000 Euro, Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten und die Feststellung der Pflicht zum Ersatz der materiellen und weiteren immateriellen Schäden.
Urteilsgründe:
Der 6. Zivilsenat des BGH hat geurteilt, dass mit der Begründung des Berufungsgerichts die Verjährung von Schadensersatzansprüchen des Klägers wegen der genannten ärztlichen Behandlungsfehler im Zusammenhang mit seiner Geburt nicht bejaht werden kann. Gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB beginnt die hier maßgebliche Verjährungsfrist von drei Jahren mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Kläger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. Der BGH weist zunächst darauf hin, dass das medizinische Fachwissen eines Sozius in einer Rechtsanwaltssozietät einem anderen regelmäßig nicht zugerechnet werden kann. Aus Sicht des Senats kann im konkreten Fall unabhängig von etwaigem vorhandenem medizinischem Fachwissen der Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis nicht mit der Begründung erhoben werden, die Prozessbevollmächtigten des Klägers hätten nach Eingang der Behandlungsunterlagen Ende September 2006 noch vor dem Jahresende diese Unterlagen prüfen und ihnen Hinweise auf schuldhaftes Fehlverhalten der Beklagten entnehmen müssen und können. Nach Überzeugung des Senats kann nämlich von einem Patienten oder seinem Wissensvertreter grundsätzlich nicht erwartet werden, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin überprüft, es sei denn, es handelte sich um Feststellungen, die sich ohne weiteres treffen lassen, wie etwa die Feststellung der Namen der behandelnden Ärzte. Der BGH hat daher das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Berufsunfähigkeit eines Tennislehrers
BerufsunfähigkeitOLG Saarbrücken, 12.02.2020, 5 U 42/19
Ein selbständiger Tennislehrer, der wegen einer chronisch entzündlichen, fortschreitenden Erkrankung des rechten Handgelenks und daraus resultierendem Belastungsschmerz nicht einmal mehr zu einem einzigen längeren Ballwechsel imstande ist, kann seinen Schülern das Tennisspiel nicht mehr beibringen und ist als bedingungsgemäß berufsunfähig anzusehen. Maßgeblich ist, ob der Versicherte mit den noch ausführbaren Tätigkeiten weiterhin ein sinnvolles Arbeitsergebnis erzielen kann. Der konkret ausgeübte Beruf setzt sich regelmäßig aus einer größeren Zahl von Einzelverrichtungen zusammen, die von unterschiedlichem Gewicht sein können. Kann ein prägendes Kernelement der Berufstätigkeit nicht mehr bewältigt werden, entfällt die Fähigkeit zur Ausübung des Berufs insgesamt, selbst wenn der hierauf entfallende zeitliche Aufwand weniger als die Hälfte der gesamten Tätigkeit in Anspruch genommen haben sollte.
Unwirksamkeit einer Einstellungsmitteilung eines Berufsunfähigkeitsversicherers
BerufsunfähigkeitOLG Saarbrücken, Urteil vom 20.05.2020, Az.: 5 U 30/19
Hat der Versicherer seine Leistungspflicht wegen Berufsunfähigkeit des Versicherungsnehmers erst einmal anerkannt, so kann er deren späteren Wegfall nur im Wege des Nachprüfungsverfahrens zum Versicherungsschein geltend machen. Unerlässlicher Bestandteil dieses Verfahrens ist es, dass dem Versicherungsnehmer das Ende der Leistungspflicht förmlich mitgeteilt wird. Unterbleibt die Einstellungsmitteilung oder ist sie rechtsunwirksam, so besteht die anerkannte Leistungspflicht auch dann fort, wenn sich die maßgeblichen Umstände derart geändert haben, dass sie den Versicherer zur Leistungseinstellung berechtigt hätten. Die Einstellungsmitteilung eines Berufsunfähigkeitsversicherers kann schon aus formalen Gründen unwirksam sein, wenn sie im Rahmen der gebotenen Vergleichsbetrachtung nicht auf die in gesunden Tagen ausgeübte Berufstätigkeit abstellt, sondern auf die nach Abschluss einer im konkreten Fall unzulässigen Kulanzvereinbarung und bis zur Abgabe des späteren Anerkenntnisses neu aufgenommene Tätigkeit.
Zeitpunkt der vollständigen Berufsunfähigkeit nach den Versicherungsbedingungen
BerufsunfähigkeitKG Berlin, Urteil vom 26.05.2020, Az.: 6 U 75/19
Wird in den Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung die Frage, wann vollständige Berufsunfähigkeit vorliegt, dahin beantwortet, dass sie vorliegt, „wenn die versicherte Person infolge Krankheit … sechs Monate ununterbrochen außerstande war oder voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben“ (Nr. 1.2.1 AVB), so tritt der Versicherungsfall auch bei der ersten Alternative („sechs Monate … war“) bereits mit dem Beginn des Sechsmonatszeitraums ein. Nach den Verständnismöglichkeiten und Interessen eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers fällt der Eintritt seiner Berufsunfähigkeit in beiden Fällen auf den Zeitpunkt, ab dem er (infolge Krankheit etc.) voraussichtlich außerstande ist oder rückblickend tatsächlich außerstande war, seinen (zuletzt ausgeübten) Beruf auszuüben, also jeweils auf den Beginn des Sechsmonatszeitraums.
Nachweis einer ordnungsgemäßen ärztlichen Aufklärung
ArzthaftungsrechtOLG Dresden, Urteil vom 30.06.2020, Az.: 4 U 2883/19
Der Inhalt eines Aufklärungsgespräches lässt sich mit einem vom Patienten unterschriebenen Aufklärungsbogen nicht beweisen. Für den Nachweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung ist vielmehr regelmäßig die Vernehmung des aufklärenden Arztes erforderlich. Der Beweis ist allerdings nicht erst dann geführt, wenn sich der Arzt an das konkrete Aufklärungsgespräch erinnert. Angesichts der Vielzahl von Informations- und Aufklärungsgesprächen, die Ärzte täglich führen, kann dies nicht erwartet werden. Da aber an den Nachweis keine unbilligen oder übertriebenen Anforderungen zu stellen sind, darf das Gericht seine Überzeugungsbildung gemäß § 286 ZPO bereits auf die Angaben des Arztes stützen, wenn seine Darstellung in sich schlüssig und „einiger“ Beweis für ein Aufklärungsgespräch erbracht ist.
Beginn der Verjährungsfrist in Arzthaftungsfällen
ArzthaftungsrechtBGH, Urteil vom 26.05.2020, Az.: VI ZR 186/17
Die regelmäßige Verjährungsfrist nach § 195 BGB wird mangels grob fahrlässiger Unkenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB grundsätzlich nicht schon dann in Lauf gesetzt, wenn es der Geschädigte oder sein Wissensvertreter unterlässt, Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin zu überprüfen. Das medizinische Fachwissen eines Sozius kann einem anderen regelmäßig nicht zugerechnet werden.
Sachverhalt:
Die Parteien streiten darüber, ob Ansprüche des Klägers gegen die Beklagten zu 1 bis 3 (Beklagten) wegen ärztlicher Behandlungsfehler im Zusammenhang mit seiner Geburt im Jahr 2003 verjährt sind. Auf Aufforderung der Prozessbevollmächtigten des Klägers übersandte die Beklagte zu 1 ihnen am 22.09.2006 die aus 91 Seiten bestehende Dokumentation über den stationären Aufenthalt der Mutter des Klägers. Mit der am 29.10.2010 bei Gericht eingegangenen Klage begehrt der Kläger von den Beklagten als Gesamtschuldnern die Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 40.000 Euro, Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten und die Feststellung der Pflicht zum Ersatz der materiellen und weiteren immateriellen Schäden.
Urteilsgründe:
Der 6. Zivilsenat des BGH hat geurteilt, dass mit der Begründung des Berufungsgerichts die Verjährung von Schadensersatzansprüchen des Klägers wegen der genannten ärztlichen Behandlungsfehler im Zusammenhang mit seiner Geburt nicht bejaht werden kann. Gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB beginnt die hier maßgebliche Verjährungsfrist von drei Jahren mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Kläger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. Der BGH weist zunächst darauf hin, dass das medizinische Fachwissen eines Sozius in einer Rechtsanwaltssozietät einem anderen regelmäßig nicht zugerechnet werden kann. Aus Sicht des Senats kann im konkreten Fall unabhängig von etwaigem vorhandenem medizinischem Fachwissen der Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis nicht mit der Begründung erhoben werden, die Prozessbevollmächtigten des Klägers hätten nach Eingang der Behandlungsunterlagen Ende September 2006 noch vor dem Jahresende diese Unterlagen prüfen und ihnen Hinweise auf schuldhaftes Fehlverhalten der Beklagten entnehmen müssen und können. Nach Überzeugung des Senats kann nämlich von einem Patienten oder seinem Wissensvertreter grundsätzlich nicht erwartet werden, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin überprüft, es sei denn, es handelte sich um Feststellungen, die sich ohne weiteres treffen lassen, wie etwa die Feststellung der Namen der behandelnden Ärzte. Der BGH hat daher das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht vor einer Koloskopie
ArzthaftungsrechtOLG Dresden, Beschluss vom 07.04.2020, Az.: 4 U 331/20
Vor einer Koloskopie ist der Patient über das Risiko einer iatrogenen Perforation des Darmes bei der Untersuchung aufzuklären. Es ist anerkannt, dass der Patient auch auf seltene Risiken hingewiesen werden muss, wenn diese Risiken, wenn sie sich verwirklichen, die Lebensführung schwer belasten und trotz ihrer Seltenheit für den Eingriff spezifisch, für den Laien aber überraschend sind. Bei der Durchführung einer Koloskopie gehört dazu die zwar selten auftretende, aber häufig zu schwerwiegenden Folgen führende Perforation des Darmes. Für den Nachweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung reicht ein Aufklärungsformular nicht aus, vielmehr ist grundsätzlich die Zeugenvernehmung oder Parteianhörung des aufklärenden Arztes geboten.
Ärztliche Aufklärung über Behandlungsalternativen
ArzthaftungsrechtOLG Brandenburg, Beschluss vom 11.02.2020, Az.: 12 U 155/18
Im Rahmen einer Aufklärung muss der Arzt dem Patienten über Behandlungsalternativen informieren, wenn gleichermaßen indizierte und übliche Behandlungsmethoden mit wesentlich unterschiedlichen Risiken und Erfolgschancen eine echte Wahlmöglichkeit für den Patienten begründen. Dem Patienten muss in diesem Fall nach entsprechend vollständiger ärztlicher Aufklärung die Entscheidung überlassen bleiben, auf welchem Wege die Behandlung erfolgen soll und auf welches Risiko er sich einlassen will. Der Arzt muss dem Patienten im Allgemeinen nicht ungefragt erläutern, welche Behandlungsmethoden theoretisch in Betracht kommen, solange er eine Therapie anwendet, die dem medizinischen Standard genügt.
Beweislastumkehr nach schwerem Behandlungsfehler, der eine Querschnittslähmung zur Folge hatte
ArzthaftungsrechtOLG München, Urteil vom 23.01.2020, Az.: 1 U 2237/17
Wird ein Patient postoperativ mit einer erheblichen Überdosierung mit Sufentanil sediert, so kann darin ein grober Behandlungsfehler liegen, der zu einer Umkehr der Beweislast führt. Die Annahme einer Beweislastumkehr nach einem groben Behandlungsfehler ist keine Sanktion für ein besonders schweres Arztverschulden, sondern knüpft daran an, dass die Aufklärung des Behandlungsgeschehens wegen des Gewichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in besonderer Weise erschwert worden ist, sodass der Arzt nach Treu und Glauben dem Patienten den Kausalitätsbeweis nicht zumuten kann.
Substantiierungspflicht des Patienten im Arzthaftungsprozess
ArzthaftungsrechtOLG Dresden, Urteil vom 12.05.2020, Az.: 4 U 1388/19
Im Arzthaftungsprozess sind an die Substantiierungspflicht des klagenden Patienten nur maßvolle Anforderungen zu stellen. Es ist ausreichend, wenn der Tatsachenvortrag nur in groben Zügen zum Ausdruck bringt, aus welchem Komplex ein Fehler abgeleitet wird und welcher Schaden daraus eingetreten sein soll. Im Berufungsverfahren ist es jedoch dem klagenden Patienten abzuverlangen, sich medizinisch fundiert, d.h. regelmäßig unter Bezug auf ein Privatgutachten, medizinische Leitlinien oder andere Stimmen aus der medizinischen Literatur mit den von ihm beanstandeten Feststellungen eines erstinstanzlichen Gerichtsgutachtens, auf die sich das erstinstanzliche Gericht gestützt hat, auseinanderzusetzen. Klärt der Arzt auch über eine ernsthafte Alternative zu der von ihm in Aussicht genommenen Behandlung auf, ist er nicht verpflichtet, zu diesem Gespräch einen Arzt derjenigen Fachrichtung hinzuziehen, in die diese Alternativbehandlung fällt.
Zeitpunkt der vollständigen Berufsunfähigkeit nach den Versicherungsbedingungen
BerufsunfähigkeitKG Berlin, Urteil vom 26.05.2020, Az.: 6 U 75/19
Wird in den Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung die Frage, wann vollständige Berufsunfähigkeit vorliegt, dahin beantwortet, dass sie vorliegt, „wenn die versicherte Person infolge Krankheit … sechs Monate ununterbrochen außerstande war oder voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben“ (Nr. 1.2.1 AVB), so tritt der Versicherungsfall auch bei der ersten Alternative („sechs Monate … war“) bereits mit dem Beginn des Sechsmonatszeitraums ein. Nach den Verständnismöglichkeiten und Interessen eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers fällt der Eintritt seiner Berufsunfähigkeit in beiden Fällen auf den Zeitpunkt, ab dem er (infolge Krankheit etc.) voraussichtlich außerstande ist oder rückblickend tatsächlich außerstande war, seinen (zuletzt ausgeübten) Beruf auszuüben, also jeweils auf den Beginn des Sechsmonatszeitraums.