BGH, Urt. v. 5.12.2023, Az.: VI ZR 108/21
Leitsatz
1. Einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation in Papierform, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, kommt zugunsten der Behandlungsseite Indizwirkung zu, die im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist.
2. In die Beweiswürdigung sind alle vom Beweisgegner vorgebrachten Gesichtspunkte einzubeziehen. Der Beweisgegner muss nicht die inhaltliche Richtigkeit der Dokumentation widerlegen. Ihm obliegt nicht der Beweis des Gegenteils. Vielmehr genügt es, wenn er Umstände dartut, die bleibende Zweifel daran begründen, dass das Dokumentierte der Wahrheit entspricht, das Beweisergebnis also keine Überzeugung im Sinne von § 286 ZPO rechtfertigt. So verhält es sich insbesondere, wenn der Beweisgegner Umstände aufzeigt, die den Indizwert – die abstrakte Beweiskraft – der Dokumentation in Frage stellen.
3. An dem erforderlichen Indizwert der Dokumentation fehlt es dann, wenn der Dokumentierende Umstände in der Patientenakte festgehalten hat, die sich zu Lasten des im konkreten Fall in Anspruch genommenen Mitbehandlers (Beweisgegners) auswirken, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies aus eigenem Interesse an einer Vermeidung oder Verringerung der eigenen Haftung erfolgt ist.
Zwingende Anwendung der GOÄ auf ambulante Operation in Privatkrankenanstalt
VergütungsrechtBGH, Urteil vom 13.06.2024, Az.: III ZR 279/23
Ein Patient hat einen Anspruch auf Rückerstattung gezahlten Honorars für in Anspruch genommene ärztliche Leistungen gegenüber einer Privatkrankenanstalt aus einem zwischen den Parteien abgeschlossenen Behandlungsvertrag über ein Pauschalhonorar. Die ambulant erbrachten ärztlichen Leistungen sind zwingend nach der GOÄ abzurechnen. Die GOÄ ist auch dann anzuwenden, wenn der Behandlungsvertrag mit einer juristischen Person, wie hier einem Krankenhausträger, oder einem medizinischen Versorgungszentrum abgeschlossen wird und der behandelnde Arzt lediglich im Rahmen eines Anstellungs- oder Beamtenverhältnisses in Erfüllung seiner eigenen Dienstaufgaben tätig wird und mit dem Patienten selbst keinen Vertrag abschließt. Die ambulante Behandlung des Patienten wandelt sich auch nicht dadurch zu einer stationären Behandlung, wenn der Patient für eine Nacht zur Beobachtung in einem Krankenhaus bleiben musste, mit dem dieser gesonderte Verträge über Unterkunft und Pflege nach dem ambulanten Eingriff geschlossen hatte. Eine vom Patienten bereits geleistete Pauschalhonorarzahlung ist folglich gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Fall 1 BGB ohne Rechtsgrund erfolgt, da der Behandlungsvertrag nach § 125 BGB i.V.m. mit § 2 GOÄ bzw. gemäß § 134 BGB unwirksam ist und keinen Rechtsgrund für die Honorarforderung darstellt.
Nachfolgearzt in MVZ muss Tätigkeitsspektrum wie Vorgänger haben
VergütungsrechtLSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.05.2024, Az. L 5 KA 1146/23
Ist eine Arztstelle in einem medizinischen Versorgungszentrum nachzubesetzen, ist Voraussetzung, dass der ausscheidende Arzt und der prospektive neue Stelleninhaber derselben Arztgruppe im Sinne der Regelungen der Bedarfsplanung angehören und dass das Tätigkeitsspektrum des neuen Angestellten dem des vorigen im Wesentlichen entspricht. Entscheidend ist dabei, ob die Leistungen, zu deren Erbringung und Abrechnung der Vorgänger und der Nachfolger berechtigt sind, größtenteils übereinstimmen. Wesentlich ist insoweit das tatsächliche Abrechnungsverhalten. Es fehlt an einem im Wesentlichen entsprechenden Tätigkeitsspektrum, wenn der prospektive neue Stelleninhaber über eine andere fachliche Qualifikation verfügt, so dass es ihm nicht erlaubt ist, die Patienten seines Vorgängers zu behandeln. Ziel ist es, dem MVZ die weitere wirtschaftliche Nutzung der vom Vorgänger aufgebauten Strukturen (Patientenstamm, ggf. Gerätschaften) durch Einsatz eines Nachfolgers zu ermöglichen.
Therapeutische Informationspflichtverletzung, keine Beweislastumkehr nach § 630h V S. 2 BGB
ArzthaftungsrechtBGH, Urteil vom 04.06.2024, Az.: VI ZR 108/23
Ein Patient hat gegen einen behandelnden Arzt einen Anspruch auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens wegen eines Behandlungsfehlers, wenn dieser kausal für die aufgetretene Gesundheitsbeeinträchtigung ist. Vorliegend hat der frühgeborene Patient eine Sehbeeinträchtigung, einhergehend mit einer Netzhautablösung erlitten, wobei dem behandelnden Arzt ein ärztliches Fehlverhalten in der unterbliebenen Kontrolluntersuchung am errechneten Geburtstermin vorgeworfen wird. Die nun in § 630h V S. 2 BGB geregelte Beweislastumkehr hat einen festgestellten Befunderhebungs- oder Befundsicherungsfehler zur Voraussetzung. Sie ist jedoch nicht anzuwenden, wenn der Behandlungsfehler, wie vorliegend, einen Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Information darstellt. Dies gilt selbst für den Fall, dass die Verletzung der Informationspflicht unmittelbar das Unterbleiben der Erhebung medizinisch gebotener Befunde zur Folge hat.
Aufklärung durch unerfahrenen Arzt trotz besonderer Risiken ist fehlerhaft
ArzthaftungsrechtOLG Hamm, Urteil vom 20.12.2023, Az.: 26 U 46/21
Die damals 44-jährige Patientin aus Mülheim an der Ruhr litt seit ihrer Kindheit an einer Hüftdysplasie und daraus folgend an einer fortgeschrittenen Hüftgelenksarthrose. Sie ließ sich 2017 operieren und verklagte wegen anhaltender Beschwerden anschließend den Operateur und das Krankenhaus. Auch in diesem Fall konnte die Patientin einen Behandlungsfehler nicht beweisen. Da sich aber die Aufklärung als nicht ausreichend herausstellte, sprach ihr das Oberlandesgericht ein Schmerzensgeld von 20.000 Euro zu und stellte fest, dass Arzt und Krankenhaus für alle materiellen Schäden haften.
Den Grund für den Aufklärungsfehler sah das Gericht hier auch in der Person des Aufklärenden begründet. Wie im Krankenhausalltag durchaus üblich, wurde die Aufklärung nicht vom Operateur selbst, sondern von einem anderen dort tätigen Arzt vorgenommen. Dies ist grundsätzlich rechtlich in Ordnung. Aufgrund der Vorerkrankung der Patientin und des mit dem Eingriff verbundenen hohen Risikos musste die Aufklärung hier aber von einem Arzt oder einer Ärztin vorgenommen werden, die aufgrund ihrer Erfahrungen – beispielsweise aufgrund selbst durchgeführter Operationen – die Risiken aus eigener Anschauung gut genug kennt und entsprechend vermitteln kann. Der für das Aufklärungsgespräch eingesetzte Assistenzarzt war indes noch nicht einmal drei Wochen in dem Krankenhaus beschäftigt und hatte keinerlei Erfahrungen mit Operationen auf diesem Fachgebiet.
Pressemitteilung des OLG Hamm vom 20.06.2024
Unterlassen der Vorstellung beim Facharzt des Patienten trotz hausärztlichem Rat führt zu Mitverschulden
ArzthaftungsrechtOLG Dresden, Urteil vom 30.04.2024, Az.: 4 U 452/22
Führt die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung dazu, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat, ist er aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, die er, wie vorliegend, nicht durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abgeklärt hat, sodass, in Abgrenzung zu einem Diagnosefehler, ein Befunderhebungsfehler anzunehmen ist. Aufgrund der Tatsache, dass die hier anhand des Laborberichts festgestellte Anämie bei dem Patienten nicht bekannt war und dieser Beschwerden unklarer Genese hatte, hätte die Ursache durch den Hausarzt zwingend abgeklärt werden müssen. Dieses Unterlassen ist als grob behandlungsfehlerhaft zu werten. Zwar trägt der Patient grundsätzlich ein Mitverschulden, wenn der die Vorstellung beim Facharzt trotz ärztlichen Rats seines Hausrats, wie hier geschehen, unterlässt. Aus medizinischer Sicht trug der Hausarzt jedoch im Rahmen der Ermittlung der Verschuldensanteile bis zur tatsächlichen Übernahme der Behandlung durch einen nachbehandelnden Neurologen als Hausarzt die Verantwortung und hätte in diesem Zusammenhang unverzüglich weitere erforderliche Maßnahmen bei dem Patienten veranlassen müssen, sodass dessen Verschuldensbeitrag höher einzustufen ist.
Kein Schadensersatzanspruch bei Vorliegen eines Behandlungsfehlers bei fehlendem Schadenseintritt
ArzthaftungsrechtLG München II, Urteil vom 13.03.2024, Az.: 1 O 5113/21
Einer Patientin wurde im Schockraum Propofol verabreicht, um aspirierte Reiskörner abzusaugen. Für die Verabreichung von Propofol lag keinerlei Indikation vor. Die Patientin musste sich übergeben und nahm den behandelnden Arzt wegen eines Behandlungsfehlers auf Schmerzensgeld in Anspruch. Das Gericht hat einen Anspruch auf Schmerzensgeld verneint. Ein Behandlungsfehler i.S.d. § 823 Abs. 1, 2 BGB, 229 StGB könne hier nicht festgestellt werden, auch wenn es aus ärztlicher Sicht fehlerhaft war, der Patientin Propofol zu verabreichen. Der Patientin sei hierdurch jedoch keinerlei Schaden entstanden, da hier kein Zusammenhang zwischen dem Erbrechen und der Behandlung seitens des Arztes bestünde. Propofol fördert nicht das Erbrechen von Mageninhalt, sondern wirkt vielmehr im Gegenteil antiemetisch.
Beweiswert der Behandlungsdokumentation
ArzthaftungsrechtBGH, Urt. v. 5.12.2023, Az.: VI ZR 108/21
Leitsatz
1. Einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation in Papierform, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, kommt zugunsten der Behandlungsseite Indizwirkung zu, die im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist.
2. In die Beweiswürdigung sind alle vom Beweisgegner vorgebrachten Gesichtspunkte einzubeziehen. Der Beweisgegner muss nicht die inhaltliche Richtigkeit der Dokumentation widerlegen. Ihm obliegt nicht der Beweis des Gegenteils. Vielmehr genügt es, wenn er Umstände dartut, die bleibende Zweifel daran begründen, dass das Dokumentierte der Wahrheit entspricht, das Beweisergebnis also keine Überzeugung im Sinne von § 286 ZPO rechtfertigt. So verhält es sich insbesondere, wenn der Beweisgegner Umstände aufzeigt, die den Indizwert – die abstrakte Beweiskraft – der Dokumentation in Frage stellen.
3. An dem erforderlichen Indizwert der Dokumentation fehlt es dann, wenn der Dokumentierende Umstände in der Patientenakte festgehalten hat, die sich zu Lasten des im konkreten Fall in Anspruch genommenen Mitbehandlers (Beweisgegners) auswirken, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies aus eigenem Interesse an einer Vermeidung oder Verringerung der eigenen Haftung erfolgt ist.
Kein Ruhen des Krankengeldanspruchs bei fehlender elektronischer Übermittlung der AU-Bescheinigung durch den Vertragsarzt
KrankenversicherungsrechtBSG, Urt. vom 30.11.2023, Az.: B 3 KR 23/22 R
Leitsatz
1. Der Anspruch auf Krankengeld ruht u.a., solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird.
2. Der Anspruch des Versicherten auf Krankengeld ruht nicht, wenn durch den Vertragsarzt entgegen seiner seit 1.1.2021 gesetzlich begründeten Pflicht die unmittelbar elektronische Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten an die Krankenkasse nicht erfolgt. Eine etwaige Verspätung bei der ab 1.1.2021 von den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten und Einrichtungen an die Krankenkassen zu übermittelnden Arbeitsunfähigkeitsdaten nach § 295 Abs. 1 Satz 1 SGB V führt nicht zu Rechtsfolgen zulasten der Versicherten.
Voraussetzungen für die Kodierung der durch eine ausgelagerte Praxis erbrachten Strahlentherapie durch ein Krankenhaus
VergütungsrechtBSG, Urteil vom 29.08.2023, Az.: B 1 KR 18/22 R
Die Zahlungsverpflichtung einer Krankenkasse entsteht unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird, den Versorgungsauftrag nicht überschreitet und i.S. von § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist.
Bei der Strahlentherapie handelt es sich zwar um eine allgemeine Krankenhausleistung. Nach § 2 Abs 2 Satz 2 Nr 2 KHEntgG gehören zu den allgemeinen Krankenhausleistungen auch die vom Krankenhaus veranlassten Leistungen Dritter, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Krankenhauses im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinisch zweckmäßige und ausreichende Versorgung des Patienten notwendig sind, insbesondere ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, Unterkunft und Verpflegung (§ 39 Abs 1 Satz 3 SGB V. Zugelassene Krankenhäuser sind verpflichtet, die Versicherten – ggf. unter konsiliarischer Hinzuziehung Dritter – mit allen während der stationären Behandlung notwendigen (auch ambulanten) Behandlungen zu versorgen. Denn sie tragen während der stationären Behandlung trotz der Hinzuziehung von Dritten für die Versicherten die Gesamtbehandlungsverantwortung. Die Leistung des Hinzugezogenen stellt sich auch nach außen als Leistung des Krankenhauses gegenüber dem Patienten dar.
Vom Krankenhaus veranlasste Leistungen Dritter sind aber nur dann als eigenständige Operationen und Prozeduren nach dem OPS kodierfähig, wenn das Krankenhaus sie nach dem Inhalt seines Versorgungsauftrags auch selbst erbringen durfte. Ist die Erbringung der Strahlentherapie nicht vom Versorgungsauftrag des Krankenhauses umfasst, ist sie nicht als Prozedur kodierfähig.
Voraussetzungen einer Zulassungsentziehung wegen Nichtausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit
ZulassungsrechtBSG, Urteil vom 19.07.2023, Az.: B 6 KA 5/22 R
Im Falle der Nichtaufnahme bzw. Nichtausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit ist stets vorrangig vor einer Zulassungsentziehung zu prüfen, ob ein bloßes Ruhen der Zulassung nach § 95 Abs. 5 SGB V i.V.m. § 26 Ärzte-ZV in Betracht kommt, da die (Wieder-)Aufnahme der Tätigkeit in angemessener Frist zu erwarten ist und dem Ruhen Gründe der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung nicht entgegenstehen. Nicht erforderlich ist, dass die Wiederaufnahme am alten Vertragsarztsitz (§ 95 Abs. 1 Satz 5 SGB V) erfolgen soll. Auch kann dahinstehen, ob zu dem Zeitpunkt der Antragstellung auf Sitzverlegung noch ein hinreichendes Praxissubstrat vorhanden war. Dies ist keine Voraussetzung für die Genehmigung der Verlegung eines Vertragsarztsitzes. Wird ein Sitzverlegungsantrag gestellt, der nicht von vorneherein ohne Aussicht auf Erfolg ist, muss dieser in die zu treffende Prognoseentscheidung einbezogen werden. Dabei steht der Ruhensanordnung nicht entgegen, wenn der Praxisinhaber oder das MVZ seine Tätigkeit am alten Standort bereits eingestellt hatte, als der Antrag auf Genehmigung der Sitzverlegung gestellt wurde. Ein Ruhen der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung kann auch dann angeordnet werden, wenn ein MVZ aufgrund der Nichtausübung der Tätigkeit mehr als sechs Monate nicht fachübergreifend tätig war.